Wenn Verrat in den Blick der Wissenschaft gerät, so geht es meistens um die dahinterstehende ‚Logik des Geheimnisses‘. Im Mittelpunkt des hier vorgeschlagenen Projekts stehen dagegen die Subjektivitätseffekte und affektiven Qualitäten des Verratsgeschehens — eine Seite des Verrats, die aufgeregt diskutiert, aber nur selten theoretisch betrachtet wird.
Den Verwicklungen von Verrat und Subjektivität versucht das Projekt mit Hilfe einer ‚mimetologischen‘ Analyse auf die Spur zu kommen. Methodisch hält es sich an die einfache, der Akteur-Netzwerk-Theorie entlehnte Regel ‚Folge den Nachahmungen‘. Das Suchgebiet wird durch den Begriff der ‚Interzone‘ abgesteckt. Er bezeichnet die in ihrer spezifischen Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Medialität zu beschreibende Region des Übergangs, in der sich das ‚Werden‘ eines Verrats vollzieht. Was durch diesen Beobachtungsrahmen sichtbar werden soll, sind die unterschiedlichen mimetischen Operationen, die das Geschehen des Verrats bestimmen. Dabei bleibt die Analyse nicht bei den im Modus der bildlichen Ähnlichkeit oder der strukturellen Homologie operierenden Formen der Nachahmung stehen, sondern interessiert sich besonders für jene Aspekte des Verräter-Werdens, die sich entlang einer Achse des Kontakts, der Berührung oder der Kontiguität vollziehen. Mit diesen schwer zu fassenden, weil nicht in Bildern auskristallisierten Formen metamorphotischer Aktivität kommt ein ‚politisches Reales‘ ins Spiel, das durch die verbreiteten Analysen des ‚politischen Imaginären‘ nicht erfasst wird.
Die Mikroanalyse von Verratssituationen zielt auf eine Diagnostik gesellschaftlicher Bindungsverhältnisse. Im Verrat geht es in mehrfacher Hinsicht um das ‚Zerreißen eines Bandes‘. Wie keine andere menschliche Handlung stellt der Verrat die Bindungen in Frage, die die Subjekte an andere Subjekte, an sich selbst oder an eine bestimmte Wahrheit fesseln. Gerade weil hier soziales Band, Ich-Identität und Wahrheit in so drastischer Weise auf die Probe gestellt werden, ist das Verratsgeschehen in der Lage, etwas über die Konstitution dieser Bindungsverhältnisse auszusagen.
Aus dieser Auffächerung der Forschungsfrage ergibt sich die Dreiteilung des Projekts: Der erste Teil fragt nach den Dynamiken des Übergangs zwischen verschiedenen Subjektpositionen; ein synchroner Schnitt durch die ‚Klassische Moderne‘ des Verrats (ca. 1936-1963) soll wesentliche Momente des ‚Verräter-Werdens‘ freilegen. Im zweiten Teil geht es um die Frage, was Verrat über die Beziehung des Subjekts zu sich selbst aussagt; die Untersuchung konzentriert sich hier auf den französischen Kollaborationsdiskurs der 1940er Jahre und die Spitzel- und Verratsdiskussion der westdeutschen Linken in den 1970er und 1980er Jahren. Im dritten Teil wird die Rede vom Verrat danach befragt, was sie über die ‚Wahrheitsökonomie‘ einer Zeit aussagt; der historische Fokus liegt auf den Diskursen vom ‚Verschwinden‘ (ca. 1968 bis 1989) und von der ‚Wiederkehr‘ (seit 2001) des Verrats.
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